Site hosted by Angelfire.com: Build your free website today!
Der Nordpol ist grausam wie die Sahara - Hör-Comic

Niels Höpfner

DER NORDPOL IST GRAUSAM WIE DIE SAHARA


Hör-Comic




 





STIMMEN

1  - FRAUENSTIMME (64), fast sopranhaft hell, in den Hö­hen schrill

2  - FRAUENSTIMME (76), dunkler Alt, mit viel Timbre

 

Ungeduldiges Pfeifen eines Wasserkessels.

 

 l: Unser Teewasser kocht.                           

2: Bitte, keinen zu starken.

l: Ganz wie Sie wünschen. Unsere Gastfreundschaft ist tradi­tionell.

2: Sonst kann ich heute nacht nicht schlafen. Besonders nach grünem Tee.

l: So. Jetzt noch fünf Minuten ziehen lassen. Haben Sie sich's bequem gemacht? Fühlen Sie sich wie zu Hause.

2: Dann leg ich die Beine hoch.

l: ... weiße Stille ... nicht ein einziger Windhauch ... und plötzlich das Brummen in der Luft ... mein erster Gedanke: das Versorgungsflugzeug hat sich verfrüht ... dann aber öff­nete sich nicht, wie üblich, ein roter Fallschirm mit den Le­bensmitteln für den nächsten Monat ... nein, an einem gol­denen Fallschirm schwebten Sie mir entgegen...                 

2: Den Fallschirm ließ ich aus Blattgold arbeiten bei Cartier ... und wagte eine Punktlandung, trotz meines Beines in Gips... unseliges Souvenir eines Bühnenauftritts in Syd­ney, wo ich mir den linken Oberschenkelknochen brach. Auch sonst hatte ich viel Pech mit Bühnenstürzen. In London bereits hatten mir die berühmten Beine den Dienst versagt. Ich strauchelte, fiel vor 989 entsetzten Zuschauern auf den Hinterkopf und mußte auf Händen und Knien von der Bühne kriechen. Denn wie immer hatte ich mich einnähen lassen in ein hautenges Kleid, unter dem ich noch eine dünne Gum­mischicht trug, zur totalen Perfektionierung meiner atembe­raubenden Figur. Ein Jahr später stürzte ich in Washington von der Rampe in den Orchestergraben.

l: Aber hier landeten Sie sanft, auf dem glitzernden Eis. Für eine Sekunde dachte ich an die alten, abgeschafften Götter.

2: Mein langer Silberfuchs bewahrte mich vor dem Ärgsten. Aber beim Aufprall riß am Knöchel das Kleid, und mein Haar war zerzaust worden beim Sprung. Wie peinlich, daß ich bei­des nicht mehr in Ordnung bringen konnte, ehe Sie mich empfingen, vor Ihrem Iglu. Aus der Vogelperspektive ein ro­ter Farbklecks in der weißen Wüste ...


l: Wozu noch protokollarische Etikette ...


2: Der Mensch wird zum Tier, vergißt er die Formen.

l: Legen Sie zur Erfrischung ein heißes Handtuch auf Ihr Ge­sicht... ein alter heimatlicher Brauch...

2: Ah, das tut gut. Die Kälte ist wirklich beißend. Hoffentlich ist jetzt mein Make-up nicht verschmiert.

l: Sie könnten ohne weiteres vor eine Kamera treten.


2: Sie schmeicheln mir.


l: Immer nur die Wahrheit. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

2: Sie sind eine bewundernswerte Frau. Ich saß in meiner ele­ganten Pariser Wohnung in der Avenue Montaigne über der Arbeit an meinen Memoiren, da hörte ich von Ihrem schwe­ren Schicksal. Meine Wohnungen in New York und London, übrigens, hab ich aufgeben müssen, sie ließen sich nicht mehr halten in diesem knickerigen Zeitalter ... In Paris also hörte ich von Ihrem schweren Schicksal. Die gesamte Weltpresse berichtete über Sie ... wie über mich, in meinen besten Zei­ten. Ihr Sturz von den Höhen der Macht und Ihre Verban­nung an den Nordpol lösten in mir tiefstes Mitleid aus. Spon­tan beschloß ich, dem Luxus den Rücken zu kehren, aufzu­brechen ins ewige Eis und Ihnen meine Hilfe anzubieten. Ungeschrieben noch ist das letzte Kapitel meiner Memoiren und reserviert für Sie.

l: Seit Jahrzehnten, Jahrzehnten, bin ich eine heimliche Verehrerin Ihrer Kunst. Offiziell ist sie für uns bloß bürger­lich-demokratisch und eignet sich allenfalls, verzeihen Sie, zum negativen Beispiel. Als Shanghai-Lilly beleidigten Sie das chinesische Volk und verrieten die Revolution .

2: Wir drehten in Hollywood. Ausschließlich Studio alles. Und Hollywood ist weiter entfernt von der Revolution als von China. Hollywood liegt hinter dem Mond. Um zu ler­nen, bin ich jetzt an den Nordpol gekommen.

l: Aber trotzdem, ich bewunderte sehr Ihre elegante Garde­robe, in der Sie von Shanghai nach Peking reisten, bewunder­te, wie der Fahrtwind durch Ihren Pelzkragen säuselte.


2: Ein Ventilator, selbstverständlich.


l: Auch abgenutzte Effekte verblüffen immer wieder von neuem, so sehr man sich wehrt dagegen. Wir verdammen das großbürgerlich Mondäne und lassen uns trotzdem gern von ihm blenden.


2: Nur täglich überleben, ist zu wenig.


 l: Leider kenn ich von Ihnen nur einen zweiten Streifen noch. Als Lumpenproletarierin vernichten Sie dort einen Kleinbür­ger.


2: Mein erster Welterfolg!

l: Ich besaß eine private Kopie und sah den Film wohl hun­dertmal, um hinter das Geheimnis seines Erfolgs zu kommen. Sie sangen da ein Lied...

2: Ich hab's vergessen...

l: Von den Dächern pfiffen es die Spatzen...

2: Kann sein. Es tut mir heute in den Ohren weh...

l: In einer Spelunke haben Sie's gesungen...

2: Alles ausgelöscht in meinem Hirn...

l: Doch Zelluloid ist ewig...

2: Leicht brennbar...

l: Sie stemmten die Arme in die Hüften...

2: Nein!


l: Sie schoben Ihr Becken nach vorn, in den Augen Dreistig­keit...


2: Nein...


1: Sie zeigten lange Beine, deren Nacktheit Nylons, aufge­hängt an Strapsen, noch nackter machten...


2: Ich hatte häßliche Knie und fette Oberschenkel...

1: Sie erinnern sich?

2: Warum quälen Sie mich? Eine fatale Legende. Einer redet es dem andern ein, die Menschheit glaubt es schließlich.

l: Ich bitte Sie, mir den banalen Wunsch doch zu erfüllen: Singen Sie das Lied. Singen Sie's noch mal. Für mich. Ganz allein für mich.

2: Also, gut. Ich singe die Originalaufnahme. O-Ton Mar­lene Dietrich: "Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe einge­stellt", ab 1. Refrain.


1.: Gestatten Sie mir, daß ich Marlene zu Ihnen sage?


2: Sie machen mich überglücklich. Aber ich zerbrech mir fast die Zunge bei Ihrem Namen: Tschiang Tsching. Blauer Fluß heißt das übersetzt, angeblich. Hab ich im Lexikon ge­lesen. Sehr exotisch und sicher höchst poetisch auch, Ihr Name. Aber für uns Europäer bleibt er trotzdem ein Zun­genbrecher.


1: Ach, sagen Sie einfach Frau Mao zu mir.

2: Gern, Frau Mao. Was macht der Tee, Frau Mao?   

l: Sofort, Marlene, sofort.

2: Danke, Frau Mao.

l: Schmeckt er Ihnen, Marlene?


2: Sie sind ein Schatz, Frau Mao.


 l: Sie machen mich glücklich, Marlene.

2: Er wärmt so angenehm, Frau Mao...Also: Ich bin ge­kommen, um Sie zu befreien, Frau Mao, aus Ihrer Nordpol­einsamkeit. Einsamkeit: "Klingt eindrucksvoller als Allein­sein, ist aber das gleiche."


l: Marlene, ich danke Ihnen.


2: Ich habe Amundsen gebeten, mir über Land zu folgen, mit seinem Hundeschlitten. Auf Amundsen ist Verlaß. Und Amundsen wird uns die Freiheit wiedergeben.


l: Sie sind sehr tapfer, Marlene. Sie kennen keine Furcht.

2: Meine Mutter, die wie ein guter General die Liebe mir zur Pflicht vorlebte, sagte immer wieder den Satz: "Eine Solda­tentochter weint nicht." Das hat mich geprägt, fürs ganze Leben. Bürgerliches Elternhaus, verstehen Sie, Frau Mao? Polizeileutnant der Mann, der mich gezeugt, und Major aus adligem Haus der Stiefvater, an der russischen Front gefal­len.


l: Sie sind Wölfe, die Russen.


2: Beide eigentlich ein Vater. Mit Ledergeruch, glänzenden Stiefeln, Reitgerte und Pferden.

Bonanza-Titelmusik.

 l: Reiten ist mein größtes Hobby. Aber jung müssen die Pferde sein, jung. Und dann über Stock und Stein. Reiten Sie auch, Marlene? Tun Sie's. Ist gut für die Bandscheibe.

2: Ich kam auf die Welt, mit Augen in Preußischblau, um zu herrschen. Ich hab's getan. Heute bin ich Nofretete.

l: S i e  kommen aus der Welt des schönen Scheins. Ich komme aus dem Dreck. Sie betrogen mit Märchen, ich bin das Mär­chen selbst... Geboren im Jahr, als Kanonendonner zum er­sten Mal um den ganzen Erdball hallte, wuchs ich auf in dü­steren Verhältnissen. Der ausländische Feind hielt besetzt das ganze Land, und die Großgrundbesitzer verpraßten die Ernte der Armen.

2: Im Jahr Ihrer Geburt ging ich schon zur Schule... Kennen Sie dieses Kinderfoto von mir? Der große Strohhut wie eine frühe Gloriole... die artig gekreuzten Beinchen... und mein rätselhafter Blick in die Ferne, auch schon vorhanden! Ist das Bild nicht allerliebst?

1: Wir waren fliegenarm. Eine einzige warme Mahlzeit die Woche. Ständige Magenkrämpfe. Mein Vater trug den Spitz­namen 'Künstler in der Kunst der Beschimpfung'. Aus Wut über sein elendes Leben prügelte er meine Mutter oft halbtot, bis sie mich auf den Rücken band und wir ihn verließen, für immer. Meine Mutter wurde Magd bei den Reichen, für einen Kanten Brot. Der reichte nicht aus zum Leben. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, lernte ich, in der Dunkelheit meine Mutter bei den Männern zu suchen. Und immer die Angst, von Wölfen zerrissen zu werden... auch heute noch.

2: Ich kenn Wölfe nur aus dem Zoo.

l: In der Schule wurde ich nur geduldet und oft beleidigt, denn ich war arm und gehörte nicht zur herrschenden Klasse. Man verspottete mich, meiner ärmlichen Kleidung wegen. Meist trug ich abgelegte Sachen von Jungen, und meine Fer­sen ragten aus den Schuhen heraus wie Enteneier.

2: Und von mir haben die Leute immer behauptet, ich hätte eine Enten n a s e. Wo, frag ich mich, wo.

 l: Als ich fünfzehn war, studierte ich an einer Kunsthoch­schule. Ich studierte alles, wozu sich Gelegenheit bot. Ich stand schon in der Nacht auf, um soviel wie möglich zu ler­nen. Wir brauchten kein Schulgeld zu zahlen und hatten die Mahlzeiten frei. Alles in allem ging ich nur acht Jahre auf Schulen. Meine wirkliche Ausbildung war die Erziehung durch die Gesellschaft, war die Erziehung in der Schule der Erfahrung.


2: "Englischer Pudding: Das Manna meiner Kindheit, von englischen Gouvernanten mit großer Zeremonie zubereitet."


 l: Mein Leitspruch ist immer, in meinem ganzen Leben, gewesen: "Wenn wir schwimmen lernen, lernen wir nicht zu­erst schwimmen und gehen dann ins Wasser. Wir lernen schwimmen durch Schwimmen... Wenn wir die Revolution durchführen, dann wird das auch nicht zuerst gelernt und dann getan, sondern man lernt, während man etwas tut oder vielmehr, man tut etwas und dann lernt man. Etwas tun ist lernen." In dem Jahr, als in Ihrem Vaterland, Marlene, der Teufel die Macht ergriff, trat ich ein in die Große Partei, die Freiheit will für alle Menschen.


2: Ich hab mein Vaterland verlassen, weil es mir Schande machte. Der Unmensch spielte sich auf zum Übermenschen, blondäugig und blauhaarig. Drei lange Jahre lang sang ich in Lazaretten und von Lastwagen herab für eine bessere Zu­kunft. Ich war der Truppe die Mutter Courage, von Alaska bis Afrika. Amerikanische Hymne, die überwechselt in die Marseillaise. Ich schied aus der Armee als Ritter der Ehrenle­gion.


l: Darum nenn ich Sie Schwester, trotz der Irrtümer in Ihrem Leben, Marlene. Nicht alle sind stark genug, um den Weg, den sie ahnen, auch gehen zu können. Aber zu wissen, daß es den Weg überhaupt gibt, ist ja schon viel.


2: Ich bin immer meinen Weg gegangen. Schnurstracks, auf Biegen und Brechen. Von Triumph zu Triumph. So kam ich in Mode, zuerst in Berlin... wissen Sie, wo Berlin liegt? Aber das spielt keine Rolle, eine Millionenstadt unter vie­len... Ich trug ein Monokel vorm Auge und fünf Rotfüchse um den Hals. Ich bevorzugte Herrenkleidung und brachte männliche und weibliche Hormone zum Wallen. Ich nahm Boxunterricht bei einem türkischen Trainer. Und ich spielte auf einer singenden Säge, leider hab ich gerade keine zur Hand... Ich war der Liebling der Saison und ging weg, trotzdem, ins Exil. Der Teufel schickte mir einen Weih­nachtsbaum, um mein vaterländisches Herz zu rühren. Zer­hackt hab ich den Weihnachtsbaum, blieb, wo ich war, und kehrte nicht heim ins Reich. Doch überleg ich mir heute, ob ich nicht Millionen Menschen vorm Tode hätte retten kön­nen, wenn ich die Geliebte des idiotischen Tapezierers ge­worden war.


l: Die Geschichte geht ihren Gang wie selbstverständlich, und wir sind davon so gelähmt, daß wir nicht wagen einzu­greifen. Aber das Selbstverständliche ist nicht selbstverständlich. Es erscheint uns nur so, und später, wenn wir sie besser verstehn, die Geschichte, sind wir beschämt, daß wir nicht eingegriffen haben.



Tschiang Tsching (Jiang Qing) Marlene Dietrich

2: Ich bin, im Grunde, nur eine kleine bescheidene deutsche Hausfrau. Kennen Sie das Rezept für Buttermilchsuppe? Ich verrat es Ihnen, Frau Mao: "Buttermilchsuppe: Buttermilch, in die man - kleingehackt - gekochten Schinken, gekochte Krebsschwänze, frische Gurke, ein hartgekochtes Ei, viel Dill, Salz und Pfeffer tut. Das Ganze kaltstellen. Mit kleinen Eisstückchen servieren. Eine wunderbare Suppe, besonders für Sommerabende geeignet."

 l: Noch ein Täßchen Tee, Marlene?

2: Danke, gern, Frau Mao. Zigarette?

l: Ich bin Nichtraucher.

2: Stört es Sie, wenn ich ... ?

l: Aber ich bitte Sie... Zigarettenanzünden.

2: "Zigaretten: Ich begann während des Krieges zu rauchen. Es hält mich gesund."

l: Der Krieg ist der Vater aller Dinge: Sie begannen zu rau­chen, und ich trat ein in die Partei der Menschenfreunde. Sie müssen die historische Situation verstehn, damals in meiner Heimat, Bürgerkrieg. Auf der einen Seite wir, die Zukunft, in fast hoffnungsloser Minderheit. Auf der andern die Libera­len, finanziert vom internationalen Kapital und den Groß­grundbesitzern, und dazu noch im Lande der imperialistische Feind. Ausbeuter und Unterdrücker beide, Waffenbrüder obendrein.


2: Buttermilchsuppe... das Wort macht mich so melancho­lisch. ..


l: Die Partei konnte nur arbeiten im Untergrund, von der Re­aktion verfolgt und gehaßt bis zum Mord. Ich scheute kein Risiko, um zu den Genossen Kontakte zu knüpfen, was mich viel Geld kostete, wie für einen Luxus-Artikel im Waren­haus, aber schließlich erreichte ich das ersehnte Ziel: Ich wurde Mitglied der Partei. Freudentag. Neue Geburt.


2: Ich... ich verfiel einem Mann, einem bleichen sentimenta­len Ästheten mit Augen aus Eis, der sich hilflos an einen Spa­zierstock klammerte und sich für den Dompteur aller Löwin­nen dieser Welt hielt. Nie werd ich ihm verzeihen, daß er den rüpeligen Assistenten nicht rauswarf, der nach meiner Be­werbung arrogant näselte: "Der Popo ist nicht schlecht, aber brauchen wir nicht auch ein Gesicht?" Ich spielte die Diene­rin und die geheimnisvoll lächelnd Überlegene. So was gefällt Männern immer.


l: Die Partei gab mir den Auftrag, weil mir Mord drohte, die Stadt zu verlassen, und ich ging nach Shanghai, wo ich junge Arbeiterinnen ideologisch schulte. Sie arbeiteten in einer Fa­brik der British-American-Tobacco-Company, drehten Zi­garetten für einen Hungerlohn. Im Sommer waren die Fen­ster der Fabrikhalle geschlossen, im Winter geöffnet. Die Ausbeuter fürchteten Trägheit, Unlust zur Arbeit, wenn die äußeren Bedingungen für ihre Sklaven einigermaßen erträg­lich waren. In Shanghai wurde ich zum ersten Mal verhaftet, wegen kommunistischer Agitation. Natürlich leugnete ich, das war sonst mein Tod gewesen. Wir Frauen im Gefängnis dachten uns einen Trick aus: Wir heulten und schluchzten, von morgens bis abends und auch in der Nacht. Die Wärter verloren die Nerven und ließen uns laufen. Ich sagte ihnen frech ins Gesicht: „Verwendet eure Zeit lieber, echte Kom­munisten zu erwischen!" Vorangegangen war die Zeit, in der ich Radfahren lernte. Ich fiel sehr oft, stand aber immer wie­der gleich auf, um es erneut zu versuchen.

2: Der Mann meines Lebens war von mir... fasziniert. Auch ich stand in Flammen. Meine Kälte war ... vulkanisch. Ein anziehender Mann war er nicht. Nein. Eher das Gegenteil. Klein wie ein Gnom war er und trug Jacketts mit gepolsterten Schultern. Er machte die Weiber nicht an. Aber für ihn hun­gerte ich mir dreißig Pfund vom knackigen Leib. Ich ließ mir die Augenbrauen zupfen und künstliche malen in die Stirn. Ich ließ mich bleich pudern. Ich ließ mein Haar mit Gold­staub überrieseln. Ich ließ mir die Weisheitszähne herauszie­hen, damit meine hohlen Wangen noch hohler einsanken. Sooo! Und alles für ihn. Alles für ihn. Er machte eine Puppe aus mir und merkte meine Verzweiflung nicht.

l: Solange ich lebe, wehrte ich mich dagegen, Puppe zu sein. Man muß sich selbst treu bleiben, auch für die Kunst darf man sich selbst nicht verlieren. Ich eroberte das Theater Shanghais in der Rolle der Nora. Eine Rebellin, bürgerlich maßvoll zwar, aber immerhin ein Embryo der Revolution.

2: Darf ich Sie als Kollegin umarmen?

l: So unbescheiden möchte ich nicht sein. Obwohl... meine Kritiken waren glänzend...

2: Mir lag die Welt zu Füßen, die ganze ... von A bis Z.

l: Ich hatte nie eine Schauspielschule von innen gesehn, habe
alles geschafft aus eigener Kraft. Und Kraft allein gab mir der Wille zum Verändern. Meine Rollen studierte ich nachts, wenn in der Schneiderwerkstatt nebenan immer noch die Nähmaschine surrte. Am Tage kämpfte ich ums Brot, denn die Kunst machte nicht satt.


2: Ich konnte mir leisten, in Champagner zu baden. Montags, dienstags, mittwochs, donnerstags, freitags, samstags, sonn­tags. Ein ganzer Swimmingpool voll mit Champagner. Pommery oder Veuve Clicquot. Wenn er nicht mehr prickelte und kitzelte, schnipste ich mit dem Finger, und das Becken wurde neu gefüllt. Meine jährlichen Schneiderrechnungen bei Dior und Frau Schmitt erreichten Millionenhöhe. Im Rolls-Royce oder im Cadillac fuhr ich durch die Slums, wo Men­schenschlangen vor Brotläden warteten auf die amtliche Ra­tion. Ich gestehe, Armut hat mich fasziniert, von frühester Kindheit an.

l: Aus Geldnot kam ich zum Film. Nie war mir wichtig der Ruhm, der egoistische. Aber ruhmreich ist es, für die Revolu­tion zu arbeiten, und sei die Arbeit auch noch so niedrig.

2: Ich bete ihn an, den Ruhm. Manna meiner späten Jahre.

l: Auf der Leinwand hatte ich mein Debüt mit dem Film "Blut auf dem Wolfsberg". Wölfe brechen ein in ein Dorf, und es herrscht gelähmtes Entsetzen. Die Abergläubischen erhoffen Rettung durch Zaubersprüche, aber die Einsichtigen wissen, einzig allein hilft die Tat. Jederzeit muß man bereit sein zu kämpfen. Auf der Seite der Furchtlosen zog ich in die Schlacht gegen die Bestien. Und mutig sangen wir: "Ob wir leben oder sterben, wir kämpfen / gegen die Wölfe und schüt­zen unser Dorf. / Das Blut unserer Brüder ist wie ein Meer, / die toten Leiber unserer Schwestern sind wie Eis! / Und sind die Wölfe noch so gefräßig, wir / weichen nicht. / Wir ver­nichten die Wölfe..."


2: Mich friert. Verfluchte Kälte.

1: Ich geb Ihnen eine Strickjacke von mir. Eigenhändig ge­strickt, an langen Abenden.

2: Danke, Frau Mao.

l: Wir könnten uns ein bißchen aufwärmen mit Billard oder Tischtennis. Was ist Ihnen lieber, Marlene?

2: Tennis ist eleganter.

l: Sie haben den ersten Aufschlag, als Gast, selbstverständ­lich.


Pingponggeräusch.


2: Bin ich nicht in großartiger Form? Mit dieser Form würde ich sogar das Finale in Wimbledon schaffen... Aber ich will nicht reden von mir, Frau Mao. Erzählen Sie von sich. Ich brenne darauf, jede Einzelheit Ihres Lebens zu erfahren, Frau Mao.


l: Meine Karriere beim Film war nur kurz, Intrigen beende­ten sie. Die Reaktion versuchte, mich vor ihren Karren zu spannen. Ich duldete es nicht, natürlich. Gleichzeitig jedoch erkannte ich: Wenn man nicht Opfer sein will, muß man selbst die Macht erlangen.


2: Wem sagen Sie das! Die Maxime meines Lebens.

l: In Jenan, im Nordwesten meines Heimatlandes, ruhten der Große Vorsitzende und die Genossen aus vom Langen Marsch. Zehntausend Kilometer hatten sie bereits zurückge­legt auf ihrem Weg zum Sieg über den verhaßten imperialisti­schen Feind und seine Kollaborateure. Hatten waten müssen durch Ströme von Blut, und immer noch nicht in Sicht war das Ziel. In Jenan erneuerte ich meine Mitgliedschaft in der Partei und wechselte den Beruf. Und arbeite als Agitatorin an der Basis für unsere Sache. Ich arbeite gern mit den Massen zusammen. Die Arbeit mit den Massen ist wichtiger als die Kunst. Die Arbeit mit den Massen ist die entscheidende.


2: Ich liebe sie auch, die Massen: als Publikum.


 l: Dann, eines Tages, lernte ich persönlich den Großen Vor­sitzenden kennen, die röteste aller roten Sonnen in unserem Herzen. Und es war Liebe auf den ersten Blick. So wurde ich die Frau unseres Großen Steuermanns, unseres strahlend großen Führers, unseres Lehrers, unseres Retters.


2: Ich hätte meinen Zwerg so gern geheiratet. Und wissen Sie, Frau Mao, was der mir sagte? Er sagte: „Lieber teile ich eine Telefonzelle mit einer verschreckten Kobra." Jawohl, das sagte er. Pffff.


l: Zu jener Zeit bereits erkannte unser Großer Steuermann: Kunst ist das Zahnrad in der revolutionären Maschine. Aber die Kunst war sich damals noch zu fein für die Massen, war nur Sache der verbildet Gebildeten, der Besitzenden. Auf der Bühne wurde das Volk als Abschaum dargestellt, die Bühne wurde beherrscht von vornehmen Herren und Damen und ihren verzärtelten Söhnen und Töchtern. Da aber Geschichte vom Volk gemacht wird, mußte die Geschichte, die auf dem Kopf stand, erst wieder auf die Füße gestellt werden.     

2: Zuviel, zuviel für meinen armen Kopf. Lassen Sie uns das
Spiel beenden, ich bin ganz aus der Puste, uff.


1: Ist Ihnen wärmer geworden?


2: Ich transpiriere und habe kein Deodorant.


1: Der Schweiß der Massen ist ein Fluß wie der Jangtsekiang...


2: Jetzt brauch ich eine Zigarette.



Zigarettenanzünden.


 l: Noch ein Täßchen Tee?


2: Gern... Ah, jetzt bin ich wieder Sonntagsmensch... Lau­tes Herzklopfen. O Gott, ich glaub der Tee war doch zu stark. Und keine Herztropfen und keinen Schraubenzieher für den Herzschrittmacher...

l: Schauen Sie auf dieses Foto... das wird Sie entspannen... unser Großer Steuermann war auch unser Großer Medizin­mann ... geht es Ihnen schon besser?
Herzklopfen leiser.

 2: Zauberhaft... wunderbar...

1: Nicht wahr?

2: Aber auf dem Foto... er... er trägt ja eine geflickte Hose!


l: I c h war es, die ihm die Flicken auf die Knie genäht hat. In­zwischen historische Flicken. Jawohl, unser Großer Steuer­mann, unser Lehrer, unser Retter... mit geflickten Ho­sen! Immer sparsam...


2: Allerliebst. In meinen besten Zeiten trug ich weiße Slacks, marineblauen Blazer und eine Jachtmütze. Abends natürlich Frack. Aber im Grunde bin ich doch die kleine bescheidene deutsche Hausfrau geblieben. Wenn ein Freund in Not war, kam ich immer zu Hilfe, mit einem Süppchen, mit Aspirin oder mit dem Scheuerlappen. Kant habe ich auch gelesen: das moralische Gesetz in mir und der gestirnte Himmel über mir. Die Welt hat mich völlig verkannt. Ihr bot ich immer nur das Schauspiel entfesselter Triebe. Der Mensch lebt nicht allein vom nackten Bein. "Das Leben besteht nicht nur aus Feierta­gen. Wer das begriffen hat, wird entdecken, daß es an Feier­tagen nicht fehlt."

l: Manchmal genügt schon ein Blick zum Glück. Unser Marsch nach Peking war kein Feiertag. Läuse und Wanzen, Wanzen und Läuse. Und der viele Regen. Wir drohten zu versinken im Morast. Dazu die Kämpfe und Schlachten gegen Feinde und alte Gewohnheiten. Einer unserer großen Schrift­steller hat geschrieben: "Eine Revolution ist eine schmerz­hafte Angelegenheit, vermischt mit Blut und Dreck, nicht so schön und interessant, wie die Dichter sie sich vorstellen. Eine Revolution ist eine äußerst handgreifliche Sache, die viele häßliche und mühselige Aufgaben mit sich bringt, nicht so romantisch, wie die Dichter sie sich vorstellen." Gurgelgeräusche.

2: Verzeihen Sie, ich hatte einen so schlechten Geschmack im Mund.

l: Den imperialistischen Erzfeind besiegte Amerika, mit der großen Bombe. Den Bruderfeind schalteten wir selbst aus: drei Millionen Banditen. Am Ende war befreit das ganze Land, und er wurde zum Ersten Vorsitzenden gewählt.

2: Eine intime Frage, die hoffentlich nicht indiskret ist: Wie war er eigentlich im Bett?

l: Da spielte sich nichts ab. An der Stelle, wo bei gewöhnli­chen Sterblichen die Genitalien sich befinden, war bei ihm... nichts. Um dieses Nichts war sein Körper herumgebaut. Tausende Konkubinen beteten es an: dieses Nichts.

2: Und wie... hat er gepinkelt?

l: Er pißte durch den Mund.

2: Einleuchtend. "Man muß zu allen Zeiten funktionieren - und zwar entsprechend den jeweiligen Anforderungen."


 l: Das nicht vorhandene Genital ließ ihn sich konzentrieren ganz auf die Leidenschaft zum Volke. Die Leidenschaft der Triebe kannte er nicht. Seine Leidenschaft galt dem Klassen­kampf und der Bodenreform. Höchste Zeit, die letzten Groß­grundbesitzer zu enteignen und den Bauern, Bundesgenossen im Kampf und Sieg, ihr Recht zu geben. Ich stellte mich selbst hinter den Pflug, um anderen Frauen ein Beispiel zu sein. War Pflügen doch bislang Männerarbeit allein.


2: Igittigitt, ich könnte mir niemals die Hände schmutzig ma­chen.


l: Dann die langen Jahre der Krankheit: Lunge, Leber, Galle,
Mandeln, Gebärmutter, Herz... ich mußte alles reparieren lassen. Kräftigte mich mit Schattenboxen...


2: Wenn ich an meinen türkischen Trainer denke
...  o la la!


l: ... denn ich hatte meine Mission noch nicht erfüllt. Meine
historische Aufgabe! Als der Große Vorsitzende in Bedrängnis geriet, hatte ich die Ehre, ihm beistehen zu dürfen. Flü­gelkämpfe in der Partei, verstehen Sie? Die Rechte ist immer auf dem Sprung an die Macht. Da gab listig unser Großer Steuermann die Parole aus: "Laßt hundert Blumen blühen, laßt hundert Schulen wetteifern miteinander!" Scheinbar steuerlos liberal das Boot... mal sehn, wer sich ans Steuer drängt... in Wirklichkeit lenkte eine automatische Steuerung tadellos das Boot durch Wellentäler, über Wellenberge. Un­ser Großer Steuermann hatte den Kompaß geeicht mit diesen Worten: "Bevor die Klassen nicht vollständig beseitigt wor­den sind, geht der Kampf weiter. Nach dem Ende des alten sozialen Kampfes werden neue soziale Kämpfe entstehen. Widerspruch und Kampf sind ewig. Wäre es nicht so, gäbe es keine Welt." Aber unerschütterlich war diese Gewißheit un­seres Großen Steuermanns: "Der Imperialismus und alle Re­aktionäre sind Papiertiger."

Würfelspielgeräusche.   


2: Haben Sie Lust, mit mir zu knobeln, Frau Mao? Ich habe die berühmten kubistischen Würfel bei mir, die Picasso für mich entwarf. Chicago? Oder Lügenmax? Oder Poker? Kennen Sie mein Pokergesicht?

l: Früh, sehr früh hatte ich als beste Schülerin unseres Gro­ßen Steuermanns erkannt, daß die Macht nicht allein von Gewehrläufen abhängt, sondern auch von den Tintenfässern. In meiner ersten Rede vor den Massen rief ich aus: "Wir essen das von den Bauern produzierte Getreide, tragen von den Arbeitern erzeugte Kleidung und wohnen in Häusern, die ebenfalls von den Arbeitern gebaut wurden, und die Volksbe­freiungsarmee steht an der Front der Landesverteidigung für uns Wache. Sie alle werden auf der Bühne, in Kunst und Lite­ratur jedoch nicht dargestellt. Darf ich fragen: auf welchem Klassenstandpunkt steht ihr Künstler, und wo bleibt das künstlerische 'Gewissen', von dem ihr alle sehr oft redet?" Und die Massen antworteten mir: "Wir werden die alte Welt in tausend Stücke schlagen, wir werden eine neue Welt er­schaffen und die Große Proletarische Kulturrevolution bis zum Ende durchführen. Wer aufs Meer hinausfährt, braucht den Steuermann; was auf der Erde wächst, braucht die Son­ne... Der Vorsitzende ist die röteste Sonne in unseren Herzen."

2: Lügenmax!

1: Und ich schleuderte den Massen entgegen: "Der Große Vorsitzende hat oft gesagt: 'Ohne Niederreißen kann es kei­nen Aufbau geben. Niederreißen bedeutet Kritik und Verur­teilung, bedeutet Revolution. Um das Alte niederzureißen, muß man Argumente vorbringen, und argumentieren heißt Neues aufbauen. Stellt man das Niederreißen voran, steckt der Aufbau schon drin... Die Rebellion gegen Reaktionäre ist berechtigt!' "

2: Chicago!

l: Die Begeisterung der Massen war grenzenlos, als ich rief: "Es darf nicht zugelassen werden, daß Rinderteufel und Schlangengeister sich erheben... Wir verfolgen zwei Revolu­tionen gleichzeitig: eine Revolution, um die objektive Welt zu reformieren, und eine weitere, um die subjektive Welt zu reformieren. Zwei Kämpfe führen wir: einen, um den Machthabern, die den kapitalistischen Weg gehen, die Macht zu entreißen, und den anderen, um dem Eigennutz in unseren Köpfen die Macht zu entreißen. Dieser Kampf wird am besten dadurch geführt, daß man sich in Fabriken und Dörfern in die reißende Strömung der Großen Proletarischen Kulturrevolution wirft und sich mir Arbeitern und Bau­ern vereinigt... Nur so können Intellektuelle ihre Schwächen überwinden und Revolutionäre werden." Und die Massen antworteten mir: "Lernt von der Genossin Tschiang Tsching!"


2: Ich habe Hunger.


l: Leider kann ich Ihnen nur etwas aus der Dose anbieten... eine Krabbensuppe, vielleicht... Hirsebrei mit Jasminblü­ten ... und als Nachtisch: süßes Walnußpüree...


2: Ich hätte so gern einen Aprikosenpfannkuchen. Kennen Sie das Rezept? Nein? Ich verrat es Ihnen... man nimmt "am besten getrocknete Aprikosen, läßt man nimmt am besten getrocknete Aprikosen, lässt sie eine Weile kochen, dann langsam mit Zucker und einem Stengel Vanille kochen, bis die Aprikosen breiig sind. Dann durch ein Sieb passieren - ich betone: durch ein Sieb - und nicht in einem Mixer zer­quetschen. Mit einem Holzlöffel durch ein Sieb passiert, hat die Marmelade gerade die richtige Festigkeit zur Füllung. Nicht auf Eis stellen."

l: Ich werde Ihnen etwas zeigen, Marlene, was Sie auf der Stelle Ihren Hunger vergessen läßt. Wenn Sie auf diesen Knopf hier drücken, öffnet sich der rote Vorhang dort hin­ten…

2: Ich drücke furchtbar gern auf einen Knopf, schon im­mer. .. dieser hier?

1: Ja.

Musik: Peking-Oper.

2: Oh... welch eine Überraschung! Da ist ja er! Welch Ähnlichkeit mit seinen Fotos!


1: Er! Eingefroren in einen Block aus Eis... Ich kämpfte darum, ihn mitnehmen zu dürfen. Schließlich ist er mein Mann... und er ließ sich so schlecht konservieren, in der Hitze Pekings...


2: Ich dachte immer, er ist dort aufgebahrt, in seinem Mauso­leum ...

l: Nur eine Kopie aus Wachs. Das Original befindet sich hier, am Nordpol.

2: Allerliebst!

l: Wenn ich auf diesen Knopf drücke, haben wir ihn mit ben­galischer Beleuchtung...

2: Fabelhaft!

l: Und dieser Knopf für den Jubel der Massen... Jubel der Massen.

2: Bravo... bravo...

1: Und dieser Knopf für Feuerwerk...Feuerwerksgeräusche.


2: Ah... oh... ah... oh... Jetzt möcht ich nur noch sehn, wie er aus dem Mund pißt...

l: Tote pissen nicht... und er i s t tot... mausetot... glauben Sie, ich würde sonst hier sitzen? Er ist mein Schicksal... Seine Prophezeiung erfüllte sich: "Was hoch herausragt, ist leicht zu knicken, was hell glänzt, leicht zu beschmutzen. Dem weißen Schnee im Frühling gleichzukommen, das gibt es immer weniger... Das menschliche Leben ist begrenzt. Aber die Revolution kennt keine Grenzen. In dem Kampf der vergangenen zehn Jahre habe ich versucht, den Gipfel der Revolution zu erreichen, aber der Erfolg ist mir versagt ge­blieben. Du kannst den Gipfel erreichen. Wenn es Dir nicht gelingt, wirst Du in einen bodenlosen Abgrund stürzen. Dein Körper wird zerschmettert. Deine Knochen werden zerbre­chen."

2: Ich bin unsterblich, Gott sei Dank. Ich habe das Glück der ewigen Jugend. Mein erstes und einziges graues Haar ist aus­gestellt, auf einem blauen Samtkissen, im Museum of Modern Art. Alter... Alter! Daß ich nicht lache. Schön wie immer werde ich eines Tages auf einem hohen Katafalk liegen, meine Friseuse wird mich ein letztes Mal frisieren und wieder einmal ungeschickt die eine Locke mir in die Stirn fallen lassen. Ich werde mich dann aufrichten, ihr den Kamm aus der Hand nehmen und das Mißgeschick in Ordnung bringen. Basta! Nur in Schönheit sterben...

l: Noch einmal mit unserem Großen Steuermann lustwan­deln durch die blühenden Gärten... zwischen den Teichen mit Seerosen und Lotos... zwischen Hibiskus und Magnoli­en... zwischen Jasmin und blühendem Ingwer... noch ein­mal der betäubende Duft der Orchideen, die ich immer so gern gepreßt habe fürs Album... und wie sieht die Wirklich­keit aus? Ich sitze im Drillichanzug mit einer Plastikhandta­sche am Nordpol!


2: Ich wünschte, in meiner eleganten Pariser Wohnung zu sein, in meiner Einbauküche. Ich möchte mich als Micky­maus verkleiden und Bratkartoffeln braten für Greta und eine Milchsuppe kochen für Gary Cooper... "Wenn man zuviel Salz in die Suppe... getan hat: Eine große, geschälte Kartof­fel dazutun und mindestens zwanzig Minuten mitkochen. Wenn der Kuchen sich nicht von der Form lösen will: Ihn umgekippt lassen und ein nasses Tuch um die Form legen. Im Handumdrehen wird der Kuchen herausgleiten."
Morsege­räusche.
 "Wenn man Eier kochen und nicht dauernd auf die Uhr sehen will: Sie im kalten Wasser aufsetzen; wenn das Wasser zu kochen beginnt, sind die Eier gerade richtig weich. Wenn man das, was man auf dem Teller hat, nicht mag, drauf mit Ketchup..." Morsegeräusche, ausschließlich.


 l: Nachrichten aus der Heimat... die Propaganda der Kon­terrevolution ...


2: Übersetzen Sie's mir... mit dem Morsen bin ich etwas aus
der Übung...


l: Nieder mit der Viererbande... Hackt Tschiang Tsching in tausend Stücke und siedet sie in öl... prügelt den Hund im Wasser rücksichtslos, denn er kann sich nicht wehren... Tschiang Tsching, Landesverräterin... Fälscherin des Te­staments unseres Großen Steuermanns... Tschiang Tsching, Kapitalistenhure... so geht das seit Monaten schon, Tag für Tag... ich bin mit meinen Nerven am Ende... Sie weint.


 2: "Leberwurst - ,Der Trost der Betrübten.' Wenn man sehr unglücklich ist, nichts essen will und nicht einmal ans Essen denken kann, ein Leberwurstbrot kriegt man immer hinun­ter. Es ist nicht nur leicht verdaulich, es schmeckt auch gut."


l: Gehn wir vor die Tür, ein bißchen frische Luft schnap­
pen. ..

2: Au ja. "Ozon. Ich liebe den Geruch."

l: Nehmen Sie auch Schlittschuhe? Ich bevorzuge Polwande­rungen mit Schlittschuhen.

2: Au ja. Für mich auch Schlittschuhe, bitte. Ich möchte für die niedlichen Eisbären Pirouetten drehn, den doppelten Lutz springen und den dreifachen Rittberger...

Beide kichern; dann das Geräusch von starkem Wind.

1: Sollen wir ein Loch ins Eis hacken und ein Bad nehmen zum Abhärten?

2: Was für eine unermeßliche Kälte... und die blendende Helle... das sticht wie tausend Nadeln... Wo Amundsen nur bleibt! Auf Amundsen war doch sonst immer Verlaß... Oh, der Nordpol ist grausam wie die Sahara. Ich kenne die Sahara. Ich hab da einen Film gedreht. Ach nein, das war ja in Kalifornien. Aber auf jeden Fall war es so ähnlich wie in der Sahara. Dieselbe Wüste. Immer Sand in den Pumps. Sand zwischen den Zähnen, Sand in den Ohren, Sand in der... ja, da auch... und diese entsetzliche Hitze... immer den Schrei nach Coca-Cola auf der ausgedörrten Zunge... die Sahara machte mich so furchtbar traurig, und jetzt tut's der Nordpol auch... das eine ist wie das andere... immer dieselbe Schei­ße...

O-Ton Marlene Dietrich: "Wenn ich mir was wünschen dürf­te", nur der Refrain.


l: Schön. Wirklich sehr schön, Marlene. Sie haben eine phan­tastische Stimme.

2: Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten... mein Berufsge­heimnis: Ich habe nie selbst gesungen. Ich wurde geboren mit eingebautem Kassetten-Recorder [heute: iPod]. Meine weltberühmte Stimme ist in Wirklichkeit... die Stimme... von... Abra­ham Lincoln! Und ein zweites Geheimnis gebe ich Ihnen preis: Ich bin keine Frau... in Wirklichkeit bin ich... ein Mann! Tarzans Bruder! Oh, Sie glauben mir nicht? Dann lüpfe ich meinen Rock...

l: Fulminant. Imposant.

2: Sagen Sie Dietrich zu mir, Frau Mao... Darf ich Sie um Ihre Hand bitten? Ich bitte um Ihre Hand!... Amundsen wird kommen und uns die Freiheit wiederschenken. Auf Amundsen war immer Verlaß…

l: Mich können nur die Massen befreien, und der Tag, der wird kommen: "Wir können den Mond im Neunten Himmel umfassen / Und die Schildkröten fangen tief in den Fünf Mee­ren; / Wir kommen zurück - lachend und singend im Sieg. /, Nichts ist schwierig in dieser Welt, / Ist da der Wille, die Höhen zu erklimmen.' " Wie unser Großer Steuermann sag­te. Ich kann es nicht übers Herz bringen, mich von ihm zu trennen.

2: Wir laden ihn auf den Schlitten und nehmen ihn mit. In Pa­ris verkaufen wir ihn an den Louvre und machen uns ein schönes Leben von dem Profit. Zuerst leise, dann immer lau­ter die "Petersburger Schlittenfahrt". Wir kaufen uns die Champs-Elysées, zum Promenieren für uns ganz allein oder zum Skateboard-Fahren. Wir kaufen uns den Eiffelturm und vögeln im Aufzug Tag und Nacht. Wir kaufen uns Notre-Dame, der Hauptaltar soll Schreibtisch sein fürs letzte Kapi­tel meiner Memoiren, denn noch nicht geschrieben ist das letzte Kapitel... Ach, ich liebe Sie, Frau Mao! Hören Sie die Schlittenglöckchen? Das kann nur Amundsen sein...

 

Arrecife, April 1978

 

Quellen:

 

Marlene Dietrich, ABC meines Lebens, Berlin 1963

Gunnar Ortlepp, ,,Denn das war ihre Welt", in: Der Spiegel. Nr. 47 ff. / 1977

Roxane Witke, Genossin Tschiang Tsching, München-Zürich 1977



VOM SELBEN VERFASSER:

ZSCHOKKE · EIN SANFTER REBELL

SÜDSEE · GROTESKE

DAS TIER · MONOLOG

ZU LANDE, ZU WASSER UND IN DER LUFT · HÖRSPIEL

DER HUMMELFORSCHER

STALLKNECHTE DES PEGASUS

THOMAS CHATTERTON

DER ALKOHOL, DIE DICHTER & DIE LITERATUR

HOMMAGE À PETE

BESTSELLERITIS

NACHRICHTEN AUS DER WOLFSWELT

KARL MARX, SEIN VATER UND PEGASUS

'ICH NEHME ALLES ZURÜCK'

SEIN ODER NICHTSEIN- DAS STADTTHEATER AM ENDE?

SCHWERER BROCKEN TRAUERARBEIT

DICHTERQUARTETT

GOETHE UND SEIN  BLITZ  PAGE   PHILIPP SEIDEL ·
ZUR HOMOSEXUALITÄT DES DICHTERFÜRSTEN


GLÜCKSKEKSE

BLACKBOX

DIE BÖSE MUTTER IN DER LITERATUR

FURCHT UND ELEND DER DEUTSCHEN LITERATUR
IM 19. JAHRHUNDERT · ÜBER ZENSUR & EXIL


E-Mail: Niels Höpfner



Hotel Rügen